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PROLOG

Er musste ein Kind finden. Als er sich vor Augen führte, wie unwahrscheinlich sein Erfolg dabei sein würde, verkrampfte sich sein Kiefer. Verzweiflung erschwerte ihm das Atmen. Ein Kind zu finden, war für ihn die einzige Möglichkeit, heimzukehren. Nur wenn er eines mitbrachte, würde man ihm die Tore seiner Heimatstadt öffnen. Seine Schultern, über welchen sein schweres Bündel an zwei Riemen hing, senkten sich entmutigt.
  Ein Knacken hinter ihm im Wald riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen, kein Wanderer, kein Bauer, der sich zu seinem Feld aufmachte, kein Bote auf einem Pferd. Niemand. Am Morgen hatte er eine Stadt verlassen, in welcher er ein Alehaus für die Nacht besucht hatte. Weil jede Übernachtung riskant war, beschloss er, in nächster Zeit nicht so waghalsig zu handeln. Unter Menschen zu sein, war für ihn wie ein Tanz auf Messers Schneide. Balancierte er richtig, wurde er nicht entdeckt. War er leichtsinnig, konnte das für ihn den Tod bedeuten.
  Maël wandte sich wieder dem Weg vor ihm zu und bewegte sich mit gesenktem Kopf weiter. Seine Stiefel schlurften über Kieselsteine und Schlamm. Mit dem mannsgroßen Wanderstab in der rechten Hand stampfte er bei jedem zweiten Schritt auf den Boden. Der Stock war seit Jahren sein einziger Wegbegleiter, der ihm stumm Gesellschaft leistete. Maël wünschte sich jemanden an seiner Seite, der sich mit ihm unterhielt, damit das bedrückende Gefühl der Einsamkeit von seinen Schultern wich. Doch sein Kopf redete ihm ein, es sei weiser, wenn er allein umherstrich. Schließlich konnte er nicht entdeckt werden, wenn niemand bei ihm war.
  Als er sich einer Häusergruppe näherte, zog er die Kapuze seines Mantels über. Obwohl er Kopfbedeckungen nicht mochte, unternahm er bei jedem Besuch in einer Siedlung diese Vorsichtsmaßnahme. Niemand sollte seine Ohren sehen.
Zwischen den wenigen Häusern des Dorfes rannten Kinder spielend umher. Als sie an Maël vorbeiliefen, suchte er ihre Augen nach einer Auffälligkeit ab. Doch er fand nichts. Beim Anblick einer alten Frau, die auf einem Stuhl an einer Haustür saß und Strümpfe flickte, fand er auch nicht, was er suchte. Weil die Alte ihn beobachtete, grüßte er sie mit einem Nicken. Sonst würde sie über ihn lästern, weil er unfreundlich erschien. Jeden Hauch von unguter Aufmerksamkeit wollte er von sich abwenden.
  Ein Bach floss an den Häusern vorbei und trieb ein kleines Wasserrad an. Maël vermutete eine Drechslerstube in dem Haus daneben. Er lief an der letzten Fassade vorbei und wurde wieder vom Wald verschlungen. Enttäuscht seufzte er. Wieder war ihm niemand aufgefallen. Forschend huschten seine grauen Augen zum Himmel, sodass seine Kapuze in seinen Nacken zurückfiel. Trübe Wolken senkten sich ins Tal hinab und erfrischten die Luft. Ein tiefer Atemzug besänftigte seine ruhelosen Sinne. Er war Richtung Westen unterwegs, wo sich das walisische Bergland zum Meer hinabbeugte. Bei dem Gedanken an das salzige Gewässer und dessen herrliche Luft strahlte eine Sonne in Maëls Kopf. Er liebte die See, ihre Launen und Geheimnisse. Der Weg bis zum nächsten Strand war seiner Schätzung nach zwei Wochen entfernt. Aber er hatte Zeit, denn ein genaues Ziel kannte er nicht. Er war ein Streuner, da waren für ihn ein paar Wochen Marsch belanglos.
  Das Klopfen von Hufen schreckte ihn auf. Seine Augen entdeckten zwei herannahende Pferde, welche den Bergweg hinabtrabten. Eilig schnappte Maëls freie Hand nach seinen hellblonden gewellten Haarsträhnen, um sie über seine spitzen Ohren zu legen. Noch bevor die Reiter ihn erreichten, war er gewiss, dass sein Haar seine Ohren versteckte. Wenn er seine Kapuze eilig übergezogen hätte, wäre seine Tarnung gewiss aufgefallen.
  Während der vordere Reiter durch ein schweres Kettenhemd, einen darüberliegenden Waffenrock und einen robusten Brustharnisch gepanzert war, trug der zweite weitaus jüngere Reiter nur ein Wams. Der Jungspund schien der Knappe des voranreitenden Ritters zu sein. Als Maël an dessen Hüfte ein Schwert in einer Lederscheide entdeckte, legte er unauffällig die freie Hand an seine Seite. Er kratzte an seinen Rippen, um sich nicht zu verraten. Denn eigentlich bereitete er sich darauf vor, im Notfall das unter seinem Mantel versteckte Schwert zu ziehen. Zwar war es verstümmelt und kurz wie eine Hand, doch selbst damit konnte er sich wehren, wenn sein Leben bedroht wurde.
  Mit einem knappen Nicken grüßte er den Ritter und seinen Knappen, während sie an ihm vorbeiritten. Sein aufmerksamer Blick hing an den Augen der beiden. Doch sie bargen keine geheimnisvolle Farbe.
  Er lauschte hinter sich. Das Trampeln verlangsamte sich, als die Reiter ihre Pferde zügelten. Maëls graue Augen senkten sich, und er drosselte sein Tempo. Seine Konzentration lenkte er in seine Ohren, in welchen sein Puls pochte. Angespannt versuchte er, seinen Atem flachzuhalten. Blieben die beiden stehen? Wollten sie nur etwas fragen? Hatten sie seine Ohren entdeckt? Würden sie gleich angreifen?
  »Ein einsamer Landstreicher ist ein seltener Anblick in diesen Zeiten«, hörte er eine kräftige Stimme, welche er weniger dem Knappen, sondern vielmehr dem Ritter zutraute.
Zögerlich blieb Maël stehen. Er schätzte, dass er weit genug von den beiden entfernt war, um seine Ohren nicht weiter verdecken zu müssen. Gespielt leichtfüßig wandte er sich auf den Fersen um. Ein freches Schmunzeln zog seinen Mundwinkel nach oben. »Ist es denn verboten, allein umherzureisen?«
  »Gewiss nicht«, sprach der Ritter und hob misstrauisch das bärtige Kinn. »Ihr wirkt mir nervös, junger Mann.«
  »Wohl eher naiv, wenn ich Eure Worte recht verstehe. Nervös macht Ihr mit Eurer anmutigen Erscheinung vielmehr die Damenwelt, edler Herr.« Um dem Ritter respektvoll zu schmeicheln, verneigte er sich.
  Angetan nickte der Ritter ihm zu. »Sagt, ist der Weg frei von Lagerern?«
  »Ich bin gefahrlos seit Monaten auf den Straßen unterwegs, Herr. Es scheint, als würden Räuber meine Nähe meiden.«
  »Das ist gut zu hören. Ich hoffe, dass Ihr nicht selbst ein Lagerer seid?«
  »Was könnte ich in Einsamkeit mit einem Stock bewaffnet ausrichten?«, fragte Maël zurück. Er verschränkte beleidigt die Arme, sodass seine freie Hand stets in Griffweite seines versteckten Schwertes blieb.
  »Wo Ihr wohl Recht habt. Freie Wege und gutes Geleit wünsche ich Euch.«
  »Selbiges wünsche ich Euch, guter Herr«, gab Maël zurück und hob die Hand. »Möget Ihr die Straßen mit Eurer Klinge vor Halunken bewahren.«
  Der Ritter verneigte sich dankend in seinem Sattel. Er spornte sein Pferd mit einem leichten Hieb der Stiefel an und ritt mit dem Knappen weiter den Handelsweg hinab. Als sie zwischen den Bäumen verschwanden, atmete Maël tief durch und beruhigte seinen heftigen Herzschlag. Obwohl er seit Jahren täglich jenes Spiel der Täuschung mit dem Menschenvolk spielte, war es immer wieder nervenaufreibend, auf einen bewaffneten Ritter zu treffen. Denn anders als ein Bauer war ein Ritter ebenso wie Maël im Schwertkampf bewandert. Im Gegensatz zu ihm trugen sie lange scharfe Klingen und keine stumpfen, verstümmelten.
  Maël wandte sich wieder dem Weg bergauf zu und zog weiter. Er stieß ein Schnaufen in die frische Frühlingsluft. Ständig war er hin und her gerissen, ob er sich unter Menschen und dadurch in Gefahr begeben sollte, oder ob es klüger war, einsam durch die Ländereien zu streifen und zu verkümmern wie eine Blume, die man im Wüstensand ausgesetzt hatte. Seit nahezu fünf Jahren lief er allein durch die Fremde, und seine aussichtslose Reise hatte ihn weiter von seiner Heimat fortgeführt, als er es jemals beabsichtigt hatte. Seine abgetragenen Stiefel schritten auf englischem Boden, hatten Berge erklommen, kalte Winter durchlaufen und Schiffsreisen erlebt, von welchen er eine für immer vergessen wollte. In seinen Erinnerungen blitzten Bilder auf, wie er gefesselt an einem Schiffsmast kauerte. Wie ihm jemand ins Ohr brüllte, damit er nicht einschlief bei seiner tagelangen Überfahrt. Wie er am Hafen zu Boden geworfen und getreten wurde wie Dreck. Mit einer Hand fuhr er über seinen zugeknöpften dunkelbraunen Wollmantel. Die Vergangenheit hatte ihn gebrandmarkt. Was geschehen war, konnte er niemals vergessen. Seine Augen brannten, als dieselbe Verzweiflung an ihm zerrte, die er bei jener Schiffsreise kennengelernt hatte.
  Jetzt reiß dich zusammen. Wenn er weiter jammerte, würde es nichts daran ändern, dass er einsam auf einem schmutzigen Weg in Richtung Bergland wanderte, ohne überhaupt zu wissen, was er tat.
  Da er befürchtete, bald im Schlamm zu versinken, lief er auf der Wiese neben dem Weg. Ein leises Grollen ließ ihn aufblicken. Der Himmel verdunkelte sich, und schon bald grüßte der erste Regentropfen Maëls Hand. Die Wolken würden bald Fässer auf die Erde regnen lassen, so finster wie sie waren. Aufmerksam beobachtete Maël, wohin die Wolken zogen, und stellte fest, dass er sich eilends einen Unterschlupf suchen sollte. Obwohl das Nieseln zunahm, versteckte er sich nicht unter der Kapuze seines abgetragenen Mantels, sondern ließ sein welliges Haar durchweichen. Er empfand den Regen als zu angenehm, als dass er sich vor ihm scheute.
  Unter einem Strauch, an welchem ihm dunkelgrüne Nadeln Schutz boten, setzte er sich nieder. Er nahm das schwere Lederbündel von den Schultern, stellte es neben sich ab und kreiste mit den Armen, um seine Muskeln zu entspannen. Manchmal kam ihm sein Gepäck so schwer vor wie zehn Pferde.
  Er überlegte, den Regen abzuwarten und später am Tag weiterzuziehen. Als er über den Stand der Sonne mutmaßte, wischte er diesen Gedanken beiseite. Bald würde der Abend dämmern. Somit beschloss Maël, an seinem Rastplatz zu übernachten. Seit Jahren war er auf der Suche nach einem Kind, da kam es nicht darauf an, ob er einen Tag eher oder später eines fand. Wenn er denn überhaupt eines der Gotteskinder aufspürte. Er wusste nicht einmal, ob in England eines lebte.
  Damit er und sein Gepäck über Nacht geschützt vor Nässe waren, legte er einige große Äste über den Strauch. Darüber schüttete er alte Blätter und war zufrieden mit seinem laienhaften Bauwerk. Er stellte sein Bündel hinein und setzte sich so, dass er den grauen Himmel über sich beobachten konnte. Das Laken seines Zeltes beließ er eingerollt und festgeschnürt auf dem Lederbündel. Bei der Nässe würde es nicht nur schmutzig, sondern noch dazu schwer wie ein volles Weinfass werden.
  Als der Regen niederprasselte, streckte Maël eine Hand aus und fing einige Wassertropfen ab. Er genoss jedes Wasser, obwohl es ihn zum Nachdenken und Trauern brachte. Denn er hatte etwas im Wasser verloren, das für ihn das Kostbarste auf der Welt bedeutet hatte. Sein Blick trübte sich. Vier Jahre war es her. In ein paar Wochen wurden es fünf. Und noch immer sah er keinen Weg, auch nur den kleinsten Gedanken an das Geschehen zu verdrängen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er Stricke mit drei Leichen vor sich. Er spürte die krallenden Hände der Wachen, die ihn festgehalten hatten. Schreie der Erinnerungen sirrten durch seinen Kopf. Das Gesicht seiner kleinen Schwester schaute ihn erwartungsvoll in Erinnerungen an. Früher hatte er ihr Geschichten erzählt oder ihr vorgesungen, wenn sie nicht schlafen konnte. Die Lieder kannte er von seiner Mutter. Ihre Stimme hatte jeden aufgewühlten Geist besänftigt. Von seinem Vater hatte er den alten Stab geerbt. Nie wieder würde er ihre Gesichter sehen oder ihre Stimmen hören. Denn sie alle waren seinetwegen tot.
  Um die Vergangenheit nicht mehr vor sich zu sehen, hob er die Lider. Maël zog die Knie an und legte das Kinn darauf. Es war so sinnlos, dachte er und schüttelte den Kopf. Seit er damals aus seiner Heimat fortgeschickt worden war, hatte er alles verloren, war jeder Tag für ihn sinnlos.
  Seine Hand fuhr an den Gürtel und tastete nach einer schmalen Halterung. Die Finger stießen an einen edlen Schwertgriff, und er zog ihn hervor. Die Klinge, die ursprünglich dem Griff angehört hatte, war so lang wie sein ausgestreckter Arm gewesen. Das Schwert war vor einem Jahr gebrochen, als er vor Menschen geflüchtet war. Seither maß die Klinge nur noch die Länge einer Hand. Die geborstene Schneide trug er nur noch in einer kurzen Halterung an seinem Gürtel. In seinem Gepäck versteckte er eine fein verzierte lederne Schwertscheide, deren Mundblech und Ortband von einem Schmied so edel gearbeitet waren, dass die Scheide königlich wirkte. Wegen seiner Kürze empfand Maël die Klinge nicht mehr würdig dafür. Wenn sein Gefühl ihm sagte, dass es Zeit war, das Schwert reparieren zu lassen, wollte er sie wieder mit der edlen Schwertscheide zusammenführen. Aber noch war es nicht soweit.
  Scharf musterte Maël die Stelle, an welcher der kostbare Stahl gesplittert war. Eine Kerbe glänzte dort, die von keinem Kampf, sondern einem heißen Eisen stammte. Jemand hatte mit Absicht die tiefe Kerbe in sein Schwert geschlagen, damit die Klinge bei einem Kampf splitterte. Maëls Brauen senkten sich finster, und sein Griff um das mit Leder umwickelte Heft verstärkte sich. Er wusste, wer ihm den Tod wünschte. Doch der Plan war glücklicherweise nie aufgegangen.
  Er hob den Kopf und musterte sein Schwert. Er hatte es trotz des Bruchs behalten, um sich daran zu erinnern, wofür er noch am Leben war. Die Klinge hatte der begabteste Schmied seiner Heimat gefertigt und ihm geschenkt. Wegen des zähnefletschenden Wolfskopfes am Knauf hatte Maël sie Ferana getauft. In seiner Muttersprache bedeutete das die Wilde. So gebrochen wie sein Schwert, fühlte Maël sich seit seiner Verbannung. Er erinnerte sich an die Hinterbliebenen in seiner Heimat, um nicht dem Drang nachzugeben, die Klinge an seinen Hals zu pressen und alles eigenhändig zu beenden. Obwohl der Gedanke ihn reizte. Keine Schuldgefühle würden ihn mehr plagen, die Grauen von damals würden für immer verschwinden. Keine Albträume von Galgen, Schreien oder zutretenden Stiefeln würden ihn mehr heimsuchen. Aber es gab Leute, denen er etwas bedeutete, obwohl er sie seit Jahren nicht gesehen hatte.
  Er nahm das zerbrochene Schwert in die andere Hand, hob die Rechte und betrachtete seine Handfläche. Eine Narbe zog sich darauf unterhalb vom Zeigefinger quer bis zu seinem Handballen. Sie verband ihn mit einer gutherzigen alten Dame auf seltsame Weise, denn sie trug ebenfalls diese Narbe auf ihrer Hand. Dadurch waren sie Seelenverwandte.
  Auch an seine Liebste Flavia dachte er, und seine grauen Augen senkten sich. Er vermisste die Wärme, die ihre Nähe in ihm auslöste, den süßen Duft von Ingwerblüten, der von ihrer weichen Haut ausging. Ihr langes braunes Haar, das im Schein der Sonne wie Seide glänzte, und ihre zarten Lippen. Sie und all seine Freunde hatte er in der fernen Heimat ohne ein Wort des Abschieds zurücklassen müssen.
  In Gedanken versunken beobachtete er die glänzenden Grashalme, welche durch die herabfallenden Regentropfen wippten. Er hob das verstümmelte Schwert an und starrte abwesend darauf. Erneut grübelte er über den Weg für seine Heimkehr. Zwar hatte er schon hunderte Varianten dafür durchdacht, doch alle Überlegungen waren absurd und Wunschdenken. In der Zeit zu reisen vermochte niemand. Einfach durch die Stadttore spazieren konnte er nicht, wenn er dabei seinen Kopf behalten wollte. Nur eine Idee ergab Sinn. Nervös kaute er auf der Unterlippe. Die freien Finger schnappten nach einer nassen Haarsträhne vor seinem Gesicht und wickelten sich darin ein. Er musste ein Gotteskind finden und es in seine sichere Heimat bringen. Nur wenn er ein Kind fand, würde man ihn ohne Strafe zurücklassen. Ob man ihm gestattete zu bleiben und über seine Verbannung hinwegsah, bezweifelte er. Aber dann hatte er wenigstens die Gelegenheit, sich von seinen Freunden zu verabschieden und Flavia einen letzten Kuss zu schenken. Das war es ihm wert.
  Ein angestrengtes Schnaufen entfuhr seiner Nase. Er musste ein Kind finden. Selbst wenn es unwahrscheinlich war, dass sich ihm eines zeigte, denn diese sonderbaren Kinder waren unheimlich selten. Aber solange er sich dies zur Aufgabe machte, trug sein zielloses Umherstreunen wenigstens einen Hauch von Sinn in sich. Doch seine Aussicht auf Erfolg war so winzig wie ein Stern am Nachthimmel. Denn nur die Augen vermochten ihm zu zeigen, ob ein Gotteskind vor ihm stand. Jene Kinder besaßen die Augenfarbe ihres göttlichen Elter. Einen anderen Anhaltspunkt für seine Suche hatte Maël nicht. Es konnte ein kleines Mädchen oder eine alte Frau sein, ein Waisenknabe in einer Großstadt oder ein Ritter in einer Burg. Er wusste es nicht. Mit Glück lebte überhaupt eines auf der britischen Insel.
  Eine Hand legte er an die Stirn, als das letzte bisschen seines Mutes vom Regen weggespült wurde. Sicher würde er erfolglos suchen. Sein Kopf hämmerte, weil er unentwegt über eine Lösung nachdachte, weil er sich ständig Gedanken darüber machte, ob er schon ein Kind getroffen und schlichtweg übersehen hatte. Bei den Herren, es war zum Verzweifeln. Dass er gezwungen war, sein Leben auf diese eine Karte zu setzen, machte ihn verrückt. Da war es wahrscheinlicher, dass die Vögel im Winter Eier legten, ehe er solches Glück hatte und ein Kind fand.
  Maël lehnte den Kopf zurück und sah hinauf in den Himmel. »Lass ein Wunder geschehen«, murmelte er und wusste nicht einmal, zu wem er sprach. »Bitte lass ein Wunder geschehen.«

Leseprobe: Verborgene Seele - Prolog: Willkommen
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