KAPITEL I
Aus der Asche
Die beiden eingehüllten Gestalten durchbrachen mit lautem Patschen das leise Trommeln der Regentropfen. Die Wollmäntel waren durchnässt, und Lorea und ihre Mutter schleppten sich mit schweren Schritten den Trampelpfad entlang. Loreas schwarze Locken waren mit so viel Wasser vollgesogen, dass sie sich glätteten und bis zu ihrer Hüfte hinabreichten.
Ihre Mutter lief mit gesenktem Kopf vor ihr. Sie hatten seit dem mageren Morgenmahl kein Wort gewechselt. Es schien Lorea, als ob ihre Mutter bereits etwas von dem verstanden hatte, was sie selbst gar nicht begriff. Ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit um die tobenden Flammen und den Gestank verbrannten Fleisches der letzten Nacht. Doch sie wollte nicht begreifen, was sie im Feuer verloren hatten. Dass sie ihre Geschwister und ihren Vater nie wieder sah. Ein Kloß in ihrem Hals erschwerte ihr das Atmen. Ihr Blick aus schwarzen Augen war starr. Lorea fühlte sich leer, als hätte jemand eine Kerze ausgeblasen und sie in der Dunkelheit zurückgelassen.
Sie stiefelten weiter durch das tiefdunkle Grün des Waldes. Die Siedlung, in der ihre Tante lebte, war einige Wegstunden entfernt. In die näher gelegene Stadt würde man sie nicht lassen, somit hatten sie am Morgen gleich den längeren Weg gewählt. Bei ihrer Tante fanden sie gewiss vorerst Unterschlupf, hoffte Lorea, um wenigstens sich selbst zu ermutigen. Das Gepäck auf ihren Schultern schnürte ihr die Atemluft ab. Schlamm und Regenwasser zogen störrisch an ihren Stiefeln und erschwerten ihr das Laufen. Jedes Mal, wenn Lorea ihren vollgesogenen Schuh aufsetzte, gab der weiche Boden unter ihr ein Schmatzen von sich. Der dumme Einfall, die Stiefel auszuziehen, schlich sich in ihren Kopf. Lorea sah einige Male scheu und misstrauisch zugleich umher, obwohl ihr die umliegenden Wälder vertraut waren. Möglicherweise hatte jemand das Feuer gelegt, welches ihr Leben zu Asche verbrannt hatte, und verfolgte sie jetzt, um sie und ihre Mutter nicht zu verschonen. Da sie nahe der Landesgrenze lebten, vermutete Lorea Schotten dahinter. Es geschah häufig, dass im Grenzland Städte überfallen wurden. Doch dann stutzte sie. Einzelne abgelegene Häuser waren selten das Ziel, da es dort wenig zu erbeuten gab. Nachdenklich huschten ihre schwarzen Augen zu den spitzen Kronen der Nadelbäume und entdeckten Frühlingsvögel, die sich nicht trauten, den traurigen Tag zu erheitern. Hatte überhaupt jemand ihr Haus angezündet oder hatte etwas ohne fremdes Zutun in jener Nacht Feuer geschnappt?
Als ihre Mutter stolperte und erschrocken schniefte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Lorea griff mit einer Hand unter ihre Achsel und half ihr auf. Die Kapuze ihres braunen Mantels hatte ihre Mutter weit über ihr Gesicht gezogen. Lorea beugte sich nach vorn und musterte sie. Maias Blick war starr. Die grünen Augen schienen sicht nicht zu trauen, zu ihrer Tochter hinüber zu spähen. Nicht nur Regentropfen flossen an ihren Wangen hinab.
»Alles wird gut«, tröstete Lorea ihre Mutter. Ihr eigener Kopf wollte ihr dasselbe sagen, obwohl sie wusste, dass nichts mehr so wie früher sein würde. Denn seit der letzten Nacht waren sie beide die einzigen, die von ihrer Sippe noch lebten.
Sie nahm ihre Mutter bei der Hand. »Bei Tante Judeth können wir bestimmt eine Weile bleiben.« Ihre Mutter senkte den Kopf und behielt ihren leeren Blick. Sanft streichelte Lorea ihren Arm.
»Vielleicht«, murmelte Maia, schien aber keine große Hoffnung zu hegen. Sie lief an der Hand ihrer Tochter weiter. Nur flüchtig wagte es Lorea, ihre Mutter anzusehen. Die zitternde Unterlippe und verzerrten Brauen flößten ihr Angst ein, und sie wandte sich ab. Noch nie hatte sie ihre Mutter so verzweifelt erlebt. Das zerzauste strohblonde Haar war ihr Auge gewohnt, doch sie sah plötzlich so alt aus. Ihr Gesichtsausdruck glich keiner Sonnenblume mehr, sondern eher einer Trauerweide. Seit gestern Nacht …
Der Griff um ihre Hand wurde fester, als fürchtete ihre Mutter, Lorea würde verschwinden, wenn sie losließe.
Sie erreichten eine kleine Holzbrücke, an der Lorea stehen blieb, um eine Pause einzulegen. Die Stiefel ihrer Mutter ruhten neben den ihren.
»Lass uns kurz verschnaufen«, schlug Lorea vor. Sie war jetzt schon völlig erschöpft. Das Bündel mit ihrer letzten Habe, die sie vor dem Feuer gerettet oder in der Asche gefunden hatten, schleppte sie auf ihrem Rücken. Schweres Gepäck war sie nicht gewohnt.
An der gesenkten Körperhaltung ihrer Mutter erkannte sie, dass auch sie entkräftet war. »Wir können uns da drüben hinsetzen.« Lorea wies auf einen umgestürzten Baum in der Nähe. Ein stürmischer Herbst war im vergangenen Jahr hereingebrochen und hatte viele Wurzeln aus dem Boden gerissen.
Hand in Hand überquerten sie die Brücke, unter welcher ein durch Regenwasser gefüllter Bach rauschte. Der Regen trommelte so laut, dass er das Geräusch des Baches übertönte.
An dem umgestürzten Baum, dessen erhobene Wurzeln ihnen für den Moment Schutz vor der Nässe gewährten, setzten sie sich. Erleichtert stellte Lorea ihr Bündel ab. Sie stöberte darin, zog ein Laib Brot hervor, welches an einer Seite schwarz verkohlt war. Ihre Mutter hatte es vor den Flammen im letzten Moment gerettet. Ihr Ärmel hatte dadurch Feuer gefangen.
Lorea riss zwei Brocken vom Brot ab. Den größeren reichte sie ihrer Mutter. Die Erinnerung an den schwarz verkohlten Ärmel hing in ihrem Kopf und bereitete ihr Besorgnis. Vorsichtig zog Lorea den Arm ihrer Mutter zu sich herüber. »Lass mich mal sehen, ob du wirklich unversehrt bist.« Behutsam streifte sie den Mantelärmel am Arm hinauf. Rote Flecken ließen sie leichte Verbrennungen deuten, doch zum Glück hatte das Feuer nicht ihre Haut gefressen. Lorea zog den freien Arm ihrer Mutter in den Regen. »Das Wasser kühlt, dann zwiebelt es nicht mehr«, ermutigte Lorea sie, als der Arm in ihrem Griff schüchtern zurückgezogen wurde. Ihre Worte bewirkten zu ihrer Erleichterung, dass Maia sich dem Regen hingab. Beide aßen zögerlich ihr Brot und folgten ihren eigenen Gedanken. Lorea redete sich hoffnungsvoll zu, dass sie bei ihrer Tante eine Bleibe fanden und man sie dort eine Weile behielt. Oder für den Rest ihrer Tage. Schließlich konnten sie nicht mehr zu ihrem Heim zurückkehren, nicht einmal genügend Verpflegung hatten sie, um eine Woche allein durchzuhalten. Sie krallte sich an den Gedanken, um nicht genauso zu verzweifeln wie ihre Mutter.
Als eine kleine Schar Krähen über sie hinwegflog, zog Lorea den Kopf ein. Die schwarzen Tiere ließen sich auf Ästen direkt über ihren Köpfen nieder. Alle sahen mit ihren gierigen Augen auf sie herab. Diese Vögel erregten eine Furcht in Lorea, als seien sie finstere Unglücksbringer. Seitdem sie am Morgen über der Asche ihres Hauses kreisende Krähen gesehen hatte, fühlte sie sich von ihnen verfolgt. Als die Bäume im seichten Wind laut und bedrohlich knarrten, durchfuhr sie ein Schauer.
Ihre Augen wanderten zu Maia hinüber, welche mit leerem Blick ins Nichts starrte. Als sie zwei schwarze Ascheflecke auf ihrer Stirn entdeckte, zog Lorea den nassen Ärmel ihres Mantels über ihren Handballen und wischte die hässliche Farbe weg. Sie streichelte ihrer Mutter über die Schulter. Die nächsten Tage brauchten sie beide viel Kraft, da war sie sich sicher.
»Wir sollten wieder aufbrechen«, meinte ihre Mutter tonlos, nachdem sie aufgegessen hatte. Doch sie blieb mit niedergeschlagenem Blick sitzen. »Der Tag ist nicht mehr lang. Wir sollten die Stadt noch vor Sonnenuntergang erreichen.«
Auf ihre Worte hin erhob Lorea sich mühsam. Mit ausgestreckter Hand half sie ihrer Mutter auf. Die blau angelaufenen Lippen im mütterlichen Gesicht und ihre zitternden Hände ließen sie wissen, dass sie der Regennässe wegen fror. »Wenn wir ein Stück laufen, wird dir wieder wärmer«, ermunterte Lorea sie. Sie fuhr mit ihrer Hand in ihr Bündel und zog zwei lederne Handschuhe hervor. »Hier, zieh sie an. Dann frieren deine Hände nicht.«
Ihre Mutter schlüpfte mit den Fingern in das Leder. Als Lorea nach ihren Händen griff, fühlten sich diese weicher an. Bald beruhigte sich ihr Zittern.
Das bepackte Bündel warf Lorea auf ihren Rücken. Mit ihrer Mutter an einer Hand kehrte sie zurück auf den Handelsweg. Die Sorge um ihre Mutter zermürbte sie. Sie wirkte geschwächt. Der Verlust der letzten Nacht und ihre Zukunft nagten an ihnen beiden. Niemand wusste, von was sie jetzt leben sollten. Früher hatte stets ihr Vater sich um Wertsachen zum Eintauschen gekümmert, war im Land unterwegs gewesen und hatte selbstgemachte Karten verkauft, um für den Rest der Familie zu sorgen. Etwas in Loreas Geist stemmte den Gedanken von sich, dass sie ihn nie wieder sah. Dass sie auf sich selbst gestellt waren. Doch wie sollten sie das schaffen? Ihre Beete und ihr Heim waren verkohlt, ihr Vieh tot. Sie hatten nichts mehr.
Trotz ihrer frustrierenden Erkenntnis verbarg Lorea ihre Gefühle. Sie wollte ihrer Mutter nicht unnötig Kummer bereiten. Ihre Hand griff fester nach dem Handschuh. Mit der anderen streichelte sie über Maias Schulter, um ihr Wärme zu spenden und sie zu trösten.
Nach stundenlangem Erguss legte sich der Regen endlich und hinterließ über ihnen ein Nieseln. Die Wolken zogen weiter, und die Sonne schaffte es, den Wald in frischen Farben erstrahlen zu lassen. Wenn Lorea mit ihrer Vermutung richtig lag, brach dem Stand der Sonne nach der späte Nachmittag an.
Als sie an jene Stadt dachte, in welcher ihre Tante lebte, lag ein flaues Gefühl in ihrem Magen. In Hexham, der Siedlung, in deren Nähe sie bis gestern gewohnt hatten, wurden Lorea und ihre Familie stets mit Abscheu und angeekelten Mienen angestarrt, wenn sie sich hinter die Stadtmauern gewagt hatten. Jeder erinnerte sie dort mit Verhöhnungen und Spucken auf ihre Schuhe daran, dass sie mit pestverbreitenden Ratten gleichzusetzen waren. Der Grund dafür lag weit in ihrer Familiengeschichte zurück. Ihre Tante entfloh jenem schmutzigen Ruf und zog, nachdem sie reif war, in eine andere Stadt weiter. Und dorthin wanderten sie nun.
Zwei fremde Gestalten kamen ihnen entgegen. Alle liefen einen großen Bogen um den anderen, gedrängt an den Rand der Handelsstraße. Die Scheu schien bei den Fremden nicht minder ihrer eigenen. Nur flüchtig wagte Lorea, ihnen einen Gruß zu schenken. Misstrauen ließ die anderen Wanderer am gegenüberliegenden Wegrand verstummen.
Es dauerte eine Weile, bis der schlammige Boden unter ihren Füßen sich zu einem angenehmer begehbaren Handelsweg verfestigte. Allmählich gewährte die Dunkelheit des dichten Waldes dem inzwischen rötlichen Licht der Sonne Einlass. Sie gelangten an ein Feld. In der Ferne waren schon die Mauern der von ihrer Tante beheimateten Stadt zu sehen. Durham war der Name, wenn Lorea sich recht entsann. Weil die Städte ihrer nördlichen Heimat ähnliche Namen trugen, verwechselte sie diese nicht selten. Sie erinnerte sich an eine wertvolle Landkarte, die ihr Vater ihr einst gezeigt hatte. Sie war auf Leder gearbeitet und zeigte zahlreiche Siedlungen, Flüsse und Berge. Jener Karte nach, lag ihre Heimat weit im Norden des englischen Königreiches.
Lorea überlegte, wie die Bewohner Durhams auf ihr Erscheinen reagieren würden. Von ihrer Heimat konnte sie mit keinen erfreulichen Erinnerungen prahlen. Ihre Großmutter trug rotes Haar und kannte sich besonders mit Heilkräutern aus, weshalb man sie in Hexham als Hexe schimpfte und ihre Familie außerhalb der Mauern verwies. Seither lebte Loreas Sippe in einer abgelegenen Hütte mitten auf einer Wiese. Die Beschimpfungen, sie verbreiteten Pech und Krankheit als dunkle Hexer, waren aus den Mündern der Stadtbewohner oft zu hören. Nur zu Markttagen hatte man ihnen gestattet, die Stadt zu betreten. Fauliges Obst hatte man dort nach ihnen geworfen, ein paarmal musste Lorea Ohrfeigen von erbosten Weibern oder gehässigen Kindern einstecken. Sie war es gewohnt, Spott auszuhalten, doch ob das miese Gerede über ihre Familie bis hierher in die Nachbarschaft gedrungen war, wusste sie nicht.
Einige Bauern sahen ihnen nach, während sie einen langen Feldweg entlangliefen. An einem schlammigen Acker grüßte eine unbekannte Frau ihre Mutter, welche der Fremden mit einem aufgezwungenen Lächeln begegnete. Die Frau musterte für einen kurzen Augenblick Loreas Gestalt. Offensichtlich hatte ihre Mutter während ihrer alleinigen Besuche bei ihrer Tante ein paar andere Anwohner kennengelernt.
Als sie die Stadttore entdeckte, bekam Lorea Angst. Abgetrennte Hände und Füße hingen an schmutzigen Seilen über dem Torgitter. An einem Strick war ein Skelett festgebunden, welches nur von wenigen, verwesten Sehnen zusammengehalten wurde. Das waren die Strafen für Verbrechen. An einer Hand saß eine Krähe und wühlte mit dem Schnabel in der großen Wunde am Handgelenk.
Ein Schauer lief über Loreas Rücken. Recht und Ordnung herrschten hinter diesen Mauern, das sah ein jeder, der durch dem Tor nahe trat.
Ein Mann in schwarzroter Tunika bewachte den mahnenden Zugang zur Stadt. Die Wache hielt eine spitze Lanze in der Hand und stand wie ein Fels steif und starr am Tor. Lorea strich nervös ihre langen schwarzen Locken hinter ihre Ohren, sodass daran ein Ohrring mit Feder zum Vorschein kam. Wenn das schlechte Gerede über ihre Familie bis hierher reichte, dann würde der Mann ihnen gewiss den Weg versperren oder sie gar mit seiner Waffe bedrohen. Einmal hatte eine Wache in Hexham sie und ihre Mutter mit einer Lanze von einem Markt gejagt und beinahe damit aufgespießt.
Ein verrottendes Schild wachte am Eingang der Stadt, auf welchem Lorea nur schwer erkannte, dass sie sich recht an den Stadtnamen erinnert hatte. Als sie unter dem Tor durchschlüpften, zog sie den Kopf ein, weil sie sich vor den abgetrennten Händen und Füßen über ihr sowie dem Stadtwächter fürchtete, an welchem sie vorbeischritten. Ihre Mutter machte ebenfalls einen eingeschüchterten Eindruck. Ungehindert ließ der Wächter sie passieren.
Eine breite Handelsstraße führte zwischen den Wohnhäusern aus rotem Stein entlang und über eine Brücke. Während sie über den Fluss wanderten, staunte Lorea über eine Burg, welche sich im Herzen der Stadt groß und mächtig erhob und über alle Häuser hinweg ragte. Lange Glasfenster, die sie sogar aus ihrer Entfernung sah, spiegelten das gedämpfte Licht der untergehenden Sonne. Zwei Glockentürme einer Kirche aus beige und schwarz farbenem Sandstein versteckte sich hinter der Burg.
Am anderen Ufer drängelten sich zu ihren Seiten unzählige schmale Gassen zwischen die Häuser. Eine Festung ragte unweit von ihnen empor, die von massiven Mauern geschützt wurde.
Der stinkende Stadtgeruch kroch in Loreas Nase, und sie verzog eine angewiderte Miene. Exkremente und Fauliges bissen ihre Sinne. Lieber schnupperte sie nach der Luft von altem Laub und frischem Gras. Eher waren Natur und ihre Geister ihr wohlgesonnen.
Scheu lief sie neben ihrer Mutter her und ließ sich von ihr führen. Nur wenn Städte belebt waren wie zu Markttagen und sie in der Menge untertauchen konnte, mochte sie Siedlungen. Nur wenige Leute trauten sich heute auf die Straße. Weil sie sich ausgeliefert vorkam und bedroht fühlte, versteifte sich ihr Gang. Jedes dunkle Fenster, jeder unbekannte Schatten ließ ihren Mut schrumpfen. Doch kein skeptischer Blick kratzte in ihren Augen. Keine Beschimpfungen drangen in ihre Ohren. Eingeschüchtert, doch gleichzeitig verwundert wagten sie sich über den schmutzigen Boden eines leeren Marktplatzes. Dass niemand sie auf abwertende Weise beachtete, war für Lorea ungewohnt.
Die Stiefelspitzen ihrer Mutter richteten sich auf eine kleinere Seitenstraße. Würde Lorea nicht an Maias sicherer Hand laufen, hätte sie sich bei ihrem Geschick nach wenigen Momenten in den düsteren Straßen verirrt.
Als sie sich neugierig umsah, entdeckte sie hier und da einige auffällige Häuser, eine Schmiede, durch deren offene Tür sie einen Handwerker mit einem großen Hammer beobachtete. Eine Bäckerei fiel in ihren Blick, wo ein Müller soeben Mehl in einem Karren und schweren Leinensäcken ablieferte. Ein Böttcher rollte aus seinem Haus neben dem Bäcker ein gefertigtes Fass, welches so groß wie ein Kind und mit Metallreifen stabilisiert war. Sicher brachte er es bald zu einem Brauer oder Winzer. Ein Alehaus, welches weitaus größer als eine der Stuben am Marktplatz schien, war zur Begeisterung der Männer direkt am Markt eingerichtet. Durch dessen teils offene Fenster drang ein Grölen, Rülpsen und die heitere Musik einer Flöte. Da Lorea selten derartige Klänge gehört hatte, reckte sie den Kopf. Es war ungewohnt für sie, ihre Umgebung ohne Einschüchterungen in Augenschein zu nehmen. Sonst hatte sie es nur gewagt, den Boden vor ihren Füßen oder verschreckt in die Gesichter von Vorbeiziehenden zu spähen.
Ihr fiel ein taumelnder Mann auf, welcher sich eine löchrige Decke übergeworfen hatte. Dem engen Griff um seine Schultern nach schien er zu frieren. Er lief an ihnen vorbei, als ihre Mutter sie plötzlich mit einem Ruck zur Seite und von dem Mann wegzog. Im selben Moment entdeckte Lorea Beulen auf den Armen des Mannes und in seinem Gesicht. Als er heftig hustete, zog sie den Kopf zurück. »Der schwarze Tod?«, fragte sie ihre Mutter flüsternd. Bedrückt und brummend stimmte sie ihr zu. Lorea schluckte schwer. Die Pestseuche hatte vor nahezu einem halben Jahrhundert Tausende dahingerafft. Damals war Loreas Familie angeblich froh gewesen, verstoßen zu sein, da sich vor allem Menschen in Städten angesteckt hatten. Sie hatte nicht erwartet, einem Erkrankten zu begegnen.
Als sie von einer engen Gasse verschlungen wurden, erschien Lorea plötzlich alles finster. Nur ein kleiner Spalt zwischen den Dächern über ihnen erlaubte es der dämmernden Sonne, eine rote Linie auf den Boden zu malen. Jede Haustür war nur wenige Schritte von der nächsten entfernt.
Ihre Mutter blieb stehen und musterte eine der vielen Türen misstrauisch, als würde ihr etwas daran auffallen. Das Heim schätzte Lorea ebenso schmal ein wie die Hütte, in welcher sie bis gestern gelebt hatten. Jedoch war es dreimal so hoch.
Mit ihren Knöcheln klopfte Maia laut an. Derweil wanderten Loreas Augen an dem Haus hinauf. Sie entsann sich kaum an das Haus ihrer Tante. Nur eine alte Treppe, die im Haus hoch führte und an deren Stufenkanten schon Holz abgebrochen war, zeigte sich in ihren Kindheitserinnerungen. Da fragte sie sich, ob sie hier leben konnten. Würde sie sich hier überhaupt wohl fühlen?
Von oben hörte Lorea Schritte. Jemand eilte knarzende Stufen hinunter. Wenig später wurde die Tür vor ihnen aufgerissen. Ein junger Mann stand auf der Schwelle des schmalen Hauses und blickte überrascht von einer seiner Besucherinnen zur anderen. Anscheinend hatte er keine Gäste erwartet. Irgendwoher kannte Lorea sein Gesicht.
»Tante Maia!«, rief er ihrer Mutter zu und lachte nervös. »Ich dachte erst, du wärst meine Mutter.«
Der Mann umarmte Maia zur Begrüßung und sah dann zu Lorea hinüber. Es dämmerte ihr, dass der junge Mann ihr Vetter war. Zuletzt hatte sie ihre Tante und ihn zu Kindertagen besucht. Nicht nur seine Größe, sondern auch seine Bartstoppeln waren für Loreas Augen ungewohnt.
»Wer ist denn die junge Frau, die du mitgebracht hast?«
»Marcus«, fragte ihre Mutter zurück, »erinnerst du dich nicht an deine kleine Base Lorea?«
Der Mann gab einen erstaunten Laut von sich, als wäre es ihm eben wieder eingefallen. Er nahm Loreas Hand und schenkte ihr einen Kuss darauf, während sie ihn gezwungen anlächelte. Sie glaubte, dass er seine Freude nur schauspielerte. Niemand hätte in solch heiklen Zeiten, wo Schotten plünderten und Halunken durch die Straßen schlichen, so bedenkenlos wie ihr Vetter die Haustür geöffnet. Als Jungen hatte Lorea ihn als waghalsigen Übermut im Gedächtnis, und sie hoffte, dass er inzwischen schlauer war und nur im ersten Moment einen törichten Eindruck machte.
»Nur noch ein wenig«, entgegnete er. »Sehr erfreut. Inzwischen bist du ja eine große Base.« Daraufhin machte Lorea einen Knicks.
»Es ist schon lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagte sie mit aufgesetztem Schmunzeln.
Marcus schlug beide Hände zusammen. »Ach, wo sind meine Manieren nur geblieben? Kommt rein.« Mit einladender Geste geleitete er sie in einen schmalen Gang, neben dem eine Treppe im Haus hinaufführte. Vorsichtig sah er sich um, als befürchtete er, jemand belauschte ihr Gespräch, und schloss die Haustür. Er nahm ihnen ihre nassen Mäntel ab.
»Ist deine Frau Mutter nicht daheim?«, warf Maia ein, die ihren leicht verletzten Arm und den verkohlten Ärmel ihrer Bluse hinter ihrem Rücken versteckte.
»Leider nicht. Wollen die Damen sich aufwärmen?« Mit seiner freien Hand wies er auf eine Stube am Ende des schmalen Flures. Ein Kaminfeuer warf ein oranges Flimmern an die kahlen Wände des Raumes und knisterte. Das Geräusch verschreckte Lorea. Erst gestern hatte sie das Knacken von Feuer ohrenbetäubend laut gehört. Brennende Balken krachten vor ihre Füße und ließen Funken sprühen. Unbeholfen setzte sie einen Schritt zurück und riss sich selbst aus der Erinnerung. Aus Furcht wollte sie dem versteckten Kaminfeuer in der Stube nicht zu nahe treten, ganz gleich wenn es gebändigt war.
»Erst einmal müssten die Damen sich umkleiden«, entgegnete Maia. Ein Lächeln zierte ihre Lippen, doch etwas daran war falsch. Sie schien wie ausgewechselt. Lorea wunderte sich, dass ihre Mutter auf einmal redselig war und es überhaupt zustande brachte, zu schmunzeln. Sie verweilte dicht neben Maia an der schmalen Treppe und sah ihrem Vetter nach, der mit ihren Mänteln in den Armen der Stube am anderen Ende des Flures verschwand.
»Ihr könnt in Judeths Zimmer gehen«, rief ihr Vetter ihnen zu, »die Treppe hinauf. Wenn sie sowieso nicht da ist, könnt ihr eure Sachen auch gleich dort abstellen.«
Beide dankten ihm und stapften, nachdem sie sich die schmutzigen Schuhe ausgezogen hatten, die schmalen Stufen hinauf. Ihre durchnässten Strümpfe patschten laut, als sie auftraten. Mit Ungewissheit folgte Lorea ihrer Mutter, die vor ihr die Treppe nach oben stieg und in ein menschenleeres Zimmer trat. So ein großes Haus, bemerkte Lorea. Die Treppe führte wie in ihren Erinnerungen weiter hinauf.
Sie stellten im Zimmer ihrer Tante ihre nassen Bündel neben ein Bett. Beim Anblick der schlichten Pflanzenbemalungen des Bettes war Lorea erstaunt. Einen Schrank und einen Stuhl fand sie im Zimmer, neben dem Kopfende des Bettes stand ein kleiner Hocker als Nachttisch. In die Beine des Hockers hatte ein Holzwurm Löcher gefressen. Als Lorea schätzte, dass die Gegenstände im Zimmer ihrer Tante ebenso viel Wert besaßen wie alles in ihrem alten Heim, mutmaßte sie, dass es ihrer Tante weitaus besser erging als ihnen. Ein einziges, klappriges Bett hatte ihre Familie besessen, in welchem alle außer Lorea geschlafen hatten. Ihr Schlafplatz war in einer Lagerkammer nebenan auf dem Fußboden auf Decken und Ziegenfellen gewesen. Ein weitaus schlichterer Schrank stand einst in der Schlafkammer ihrer Eltern und Geschwister, Regale hatten sie aus eigens gefälltem und bearbeitetem Holz gebaut. Kein einziger Wohngegenstand war bei ihnen mit Farbe oder gar Verzierungen geschmückt gewesen.
Lorea wühlte in ihrem Gepäck, bis sie Kleidung fand, die nicht vollkommen durchnässt war. Sie zog sich ein blaues Leinenkleid mit weiten Ärmeln über. Ihr Unterkleid behielt sie an, da sie fürchtete, sonst zu frieren. Außerdem war es unsittlich, nichts unter einem Kleid zu tragen. Nachdem sie ihre Kleidung festschnürte, half sie ihrer Mutter aus der angekohlten Bluse. Maia schlüpfte in ein feuchtes Hemd. Ein dunkelgrüner Wollrock schützte ihre Beine, und Lorea zog ihr eine Wollweste über, welche sie aus den Flammen gerettet hatte. Besorgt musterte sie den leicht verletzten Arm. »Morgen müssen wir nach Spitzwegerich suchen, damit das schneller heilt«, bemerkte Lorea. Ihre Mutter griff nach ihrer tropfnassen, versenkten Bluse und schien jedes Wort, welches sie an die vergangene Nacht erinnerte, zu ignorieren.
Die restlichen Sachen hingen sie über den Schrank, den Stuhl und die Bettkanten. Sie sollten wenigstens trocknen, während die Sonne noch für kurze Zeit durch das Fenster hineinschien.
Ihre Mutter kämmte durch Loreas Haar. Sicher suchte sie nur wieder eine Ablenkung.
»Ma, wir sollten es Marcus sagen«, beschwichtigte Lorea sie. Ihr war bewusst, dass ihre Mutter jedes Wort über die vergangene Nacht vermeiden wollte. Ihr Gesicht ließ Lorea plötzlich tiefe Trauer ablesen. Die vorgetäuschte Freude der Mutter hatte sich urplötzlich in Luft aufgelöst und hinterließ das verletzliche Bisschen, das die Feuersbrunst der letzten Nacht überlebt hatte.
»Was denn sagen?«, erklang Marcus’ Stimme, und Lorea hörte, wie er sich dem Fuße der Treppe näherte. Dann hielt er inne. Keiner von ihnen sprach ein Wort. »Warum bist du mit deiner Tochter hergekommen, Tante?«
Maias Blick wurde starr. »Ein Feuer«, schniefte sie und schien den Tränen nahe. Lorea traute sich nicht, ihr die Erklärung abzunehmen.
»Wie meinst du das?«, wollte Marcus verwundert wissen und erschien auf den untersten Stufen der Treppe. Ihr Inneres zuckte verschreckt zusammen. Abgesehen von ihr und ihrer Mutter ahnte niemand, was geschehen war.
Ihre Mutter holte tief Luft. »Letzte Nacht brach ein Feuer in unserem Haus aus und nahm meinen Mann und meine zwei Jüngsten«, wimmerte ihre Mutter. »Alles ist weg!« Ihre Worte verklangen beinahe. Sie verbarg das Gesicht in den zitternden Händen und sank in sich zusammen.
»Ma«, murmelte Lorea und hockte sich neben ihre Mutter. Ihre Arme schlang sie mitfühlend um Maias Hals.
Im selben Moment eilte Marcus die Treppe hinauf. »Was sagst du da?« Lorea sah, wie sich seine Augen vor Entsetzen weiteten und sein Blick von ihrer Mutter zu ihr wanderte. »Ist das wahr?«
Sie nickte nur, denn ihre Kehle wurde von einem unsichtbaren Seil zugeschnürt. Die Hitze der vergangenen Nacht brannte an ihren Armen, als das Feuer nach ihr geschnappt hatte. Schreie hallten durch ihren Kopf. Sie sah Vieh vor sich, welches das Feuer zerfraß. Durch die Flammen hatte sie nicht einmal erkennen können, ob es eines ihrer Schafe oder eine ihrer Ziegen gewesen war. Das Panikgefühl, welches sie durch ein aufgestoßenes Fenster und aus dem entflammten Haus gejagt hatte, ließ ihr Herz verängstigt klopfen. Ihre Augen brannten, und ihre Sicht verschwamm. Heiße Tränen spürte sie auf ihren Wangen. Offenbar war es das, was nötig war, um sie wieder vollständig in die eiskalte Wirklichkeit zurückzustoßen. Dass es jemand laut aussprach.
Sie drückte ihre Mutter fester an sich, denn erst jetzt wurde ihr der Verlust bewusst. Ihre Geschwister, Allan und Liza und ihr Vater waren für immer weg. Selbst die Tiere im Stall, die kleine Schafherde, ein paar Ziegen und ihre Hühner, hatte das Feuer nicht verschont. Sie hatte sich nicht einmal verabschieden können.
Alles in ihr fühlte sich plötzlich leer an. Als ob ein tiefes dunkles Loch sie von innen auffraß.
Marcus stand mit schockiertem Blick vor der Tür. Offenbar wusste er nicht, was er sagen oder tun sollte. Lorea half ihrer Mutter nach einem schmerzenden Moment des Begreifens, sich auf das Bett zu setzen. »Ruh dich aus.« Sie legte ihr eine Decke über die herabgesunkenen Schultern. »Es war heute ein schwieriger Tag.« Verkrampft versuchte Lorea, sich beisammenzuhalten und ihre Trauer hinunterzuschlucken. Maia sah sie mit rot unterlaufenen Augen an.
»Ich bringe dir eine Brühe«, sagte Marcus, um sich der unangenehmen Stimmung zu entziehen, und verschwand die Treppe hinunter.
Lorea wickelte ihr Lederarmband von ihrem Handgelenk und legte es auf das Federkissen des Bettes. »So kannst du besser schlafen. Dann sind sie bei dir.« Sie lächelte mitfühlend. Behutsam streichelte sie über das strohblonde Haar. Lorea zog eine Decke über Maias Schultern und tätschelte ihre Hand, die jegliche Wärme verloren hatte. Ihre Mutter versenkte das Gesicht in der Decke, um hineinzuschluchzen. Damit sie Trost fand, setzte Lorea sich neben sie und legte den Kopf auf ihre Schulter.
Mit einem Becher, aus dem heißer Dampf aufstieg, kam Marcus zurück ins Zimmer. Er stellte ihn mit dumpfem Geräusch auf ein kleines Schränkchen neben das Bett. Lorea nahm sich den Becher und ermunterte ihre Mutter, wenigstens einen Schluck der warmen Brühe zu trinken. Das würde sie aufwärmen, hoffte sie. Während sie ihre Mutter beobachtete, schlürfte diese zögerlich. Ihr Vetter verließ den Raum und ließ sie allein. Kurz darauf stellte Maia den Becher beiseite. Lorea stand auf und schob sie sanft an den Schultern auf ihr Kissen. Sie wünschte, dass es irgendetwas auf der Welt gäbe, das ihre Mutter in einen ruhigen Schlaf wog. Die nächsten Nächte würde sie keine angenehmen Träume haben. Allein bei der Vorstellung, was sie selbst im Schlaf erleben könnte, verkrampfte sich Loreas Magen.
Damit ihre Mutter besser einschlief, verweilte Lorea an ihrer Seite. Sie sprach in Gedanken Wünsche aus, denn sie glaubte, dass sie dabei halfen, Maia zur Ruhe zu bringen. Sie bat den Mond, alle Nachtmahre fortzuscheuchen. Sie wünschte sich, dass die Geister des Waldes ihnen ein Heilkraut zeigten, damit Maias Verletzungen schnell heilten. Doch einen Wunsch konnten die Naturgeister ihr nicht erfüllen. Dass sie wieder heimkehren durften. Die Befürchtung verfestigte sich in ihrem Kopf, dass ihre Mutter den Verlust der Flammennacht niemals verkraftete.
Nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, bemerkte sie, wie Maia ruhiger atmete. Ein kaum hörbarer Seufzer entfuhr Lorea, denn sie war froh, dass sie so schnell eingeschlafen war. Sie legte die restliche feuchte Kleidung über ihren Arm. Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer und schlich die Treppe hinunter. Bei jedem Schritt knarzte das alte Holz unter ihren Füßen, und sie befürchtete, ihre Mutter versehentlich zu wecken. In ihrer alten Hütte hatte der Holzboden ebenso bei jedem Aufsetzen von Füßen geknarrt. Als sie unten anlangte und in die von einem Kaminfeuer erleuchtete Stube trat, sah sie Marcus auf einem von Holzwürmern durchlöcherten Stuhl am Feuer sitzen. Hier war es wärmer als in den anderen Zimmern.
Ihr Vetter drehte sich zu ihr um und sah, dass ihre Arme schwer beladen waren. »Warte, ich helfe dir.« Er kam zu ihr herüber und nahm ihr einige Sachen ab. Beide legten die Kleidung über Stühle, die an einem Tisch warteten, und auf den warmen Kaminsims. Lorea setzte sich auf einen Schemel und starrte abwesend auf eine gewobene Decke, die auf dem Tisch lag. Sie sah ähnlich aus wie eine, welche Loreas Großmutter einst bestickt und die stets auf ihrem Küchentisch gelegen hatte. Alles war zu Asche verbrannt, jeder geliebte Mensch, jede Erinnerung, jedes Erbstück. Ihr Kopf pochte bei dem Versuch zu begreifen, was ihnen letzte Nacht widerfahren war.
Derweil Marcus im Feuer stocherte, lauschte sie dem Knacken des glühenden Holzes und dem Fauchen der Flammen im Kamin. Es dauerte nicht lange, da sah sie die Feuersbrunst in ihrem einstigen Heim vor ihren Augen züngeln und schlagen, wie sie alles zerfraßen, was in ihre Reichweite gelangte. Der Geruch von verbranntem Holz und Haar kratzte in ihrer Nase. Sie bekam diese grauenvolle Nacht nicht mehr aus ihrem Kopf. Egal was sie anblickte, es erinnerte sie an ihr Zuhause, an das Feuer und die Asche, zu der ihre alte Hütte verbrannt war.
Nachdem Marcus das Kaminfeuer mit einem langen Stock geärgert hatte, zog er den Ärmel seines Hemdes über die Hand und griff eine Kanne, die über den kleinen Flammen brodelte. Er goss dieselbe Kräuterbrühe, die er ihrer Mutter gebracht hatte, in zwei hölzerne Becher auf dem Boden. Mit lautem Geräusch setzte er die Kanne neben den Kamin. Er nahm die beiden Holzbecher, stellte sie auf den Tisch und rückte seinen Stuhl von der Feuerstelle hinüber zu ihr. Schließlich nahm er neben ihr Platz. Lorea umfing den bereitgestellten Becher mit beiden Händen. Brotkrümel und fein geschnittene Kräuter schwammen in der gelblichen Brühe, die bis zum Rand schwappte. Vorsichtig nippte sie daran. Als die heiße Flüssigkeit auf ihrer Zunge brannte, verzerrte sie das Gesicht. Ihr Vetter musterte sie bekümmert, und sie entschloss sich, die unbehagliche Stille zu brechen. »Wo ist deine Mutter?«
»Sie ist seit gestern verschwunden«, erklärte Marcus bedrückt. »Niemand hat sie gesehen. Sie muss früh am Morgen aus dem Haus gegangen sein. Ein paar Mitbewohner haben bereits in der Stadt nach ihr gesucht, aber wir konnten sie nirgends finden.«
Genauso unverstanden, wie ihr Vetter sie vor wenigen Augenblicken angesehen hatte, musterte Lorea nun ihn. Als sich ihre Blicke trafen, schlug sie die Augen nieder und starrte auf die Brotstückchen, die in ihrem Becher ein heißes Bad nahmen. Damit sie sich nicht abermals an der Brühe verbrannte, pustete sie in den Becher. Kleine Wellen erhoben sich kreisförmig. Sie grübelte über diesen eigenartigen Zufall. Steckte womöglich jemand dahinter? Bei dem Gedanken, man hätte ihr Heim absichtlich angezündet, verging ihr schlagartig der Appetit. Aber wer könnte ihren Tod wollen? Hatten die nahen Stadtbewohner Mordpläne geschmiedet? Oder gar Hexenjäger angeheuert? War ihr Lehnsherr in Hexham ihrer überdrüssig geworden? Hatten sie zu wenig Abgaben geleistet? Bei ihrer letzten Vermutung schüttelte sie den Kopf. Fünf Schafe und eine Kiepe Äpfel samt selbstgeflochtenem Korb hatten sie im vergangenen Herbst dem adligen Hof überlassen, damit man ihnen ihr Heim ließ. Das war für bäuerliche Verhältnisse ein nahrhafter Grund, sie am Leben und in Frieden zu lassen.
Obwohl ihre Finger sich nicht aufgewärmt hatten, stellte sie die Tasse zurück auf den Tisch. Mit jedem Geräusch, das Glut und Flammen erzeugten, fassten sich ihre Gedanken zunehmend. Der Nebel in ihrem Kopf verschwand, doch was er ihr offenbarte, ließ die gleiche Kälte durch sie ziehen, die sie an der Hand ihrer Mutter gespürt hatte. Mit ihren kleinen Geschwistern war sie oft im Wald gewesen, hatte mit ihnen Beeren gepflückt und gezeigt, welche Kräuter essbar und wohltuend waren. Zu dritt hatten sie jeden Tag die Schafe und Ziegen aus dem Stall und hinaus auf die grüne Wiese gescheucht. Und am Abend hatte ihr Vater stets Geschichten oder von seinen Wanderungen erzählt. Sie sind alle weg, dachte Lorea verzweifelt. Aber das konnte doch nicht sein.
Sie starrte gedankenverloren auf den Boden, und fragte sich, was sie nur tun sollten. Je länger sich die Ruhe zwischen ihr und ihrem Vetter ausdehnte, desto mehr Fragen türmten sich in ihrem Kopf. Wenn sie tatsächlich verfolgt wurden, dann waren sie gezwungen, zu fliehen. Wenn nur ein böser Knabenstreich hinter dem Brand steckte, mussten sie trotz allem neu Fuß fassen. Etwa hier bei ihrer Tante? Dann konnten sie wenigstens auf den Feldern arbeiten, um Geld zu verdienen. Als sie bemerkte, dass sie abgesehen von einem kleinen Säckchen mit Knöpfen und Muscheln nichts Wertvolles hatten, schnaufte sie.
»Ist auch euch etwas bei dem Feuer passiert?«, fragte ihr Vetter vorsichtig. »Habt ihr Verbrennungen?«
Lorea schüttelte abwesend den Kopf. »Ma hat zum Glück nur ganz leichte Verbrennungen am Arm, nichts Ernstes.«
»Hat es euer Vieh geschafft?«
Sie zeigte ihm ein verletztes Gesicht. In ihrer zugigen Scheune hatten die Schafe und Ziegen gemeinsam mit einem Dutzend Hühnern bis letzte Nacht geschlafen. Einige Tiere hatte ihr Vater mitgebracht, andere waren Züchtungen ihrer Großeltern. Angeblich hatten sie ihr erstes Huhn von einem Bauernhof gestohlen, damit das Federvieh ihnen im Winter regelmäßig Eier legte und sie nicht verhungerten. Die Feuersbrunst der letzten Nacht war in der Scheune erwacht. Es bereitete ihr Kopfschmerzen, daran erinnert zu werden.
»Was habt ihr nun vor?«, fragte ihr Vetter und sah sie erwartungsvoll an.
»Ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, dass Mutter sich entscheidet, hier zu bleiben.«
»Wir haben ja jetzt ein Zimmer frei«, sagte Marcus bekümmert, woraufhin sie nachdenklich nickte. Ihr Blick wurde vom Kaminfeuer angezogen. »Ich habe nur alles, was ich greifen konnte, hinausgeworfen und bin aus dem Fenster gesprungen«, erinnerte sie sich mit anschwellender Stimme. Mit zitternden Händen hatte sie nach dem Lederbündel ihres Vaters gegriffen, worin der Wertbeutel mit Muscheln und Knöpfen versteckt gewesen war, und hatte alles in ihrer Griffweite hineingestopft. Alte Kleidung und einen Gürtel aus einem Regal, Decken auf dem Fußboden, einen Trinkschlauch auf einem Hocker. Alles um sie herum verschwamm. Obwohl sie nicht darüber reden wollte, schien das Geschehene nicht anders aus ihren Gedanken flüchten zu können. Sie fürchtete, wenn sie alles nur stumm in sich hineinfraß, ging sie daran zugrunde. »Bei den Kleinen und Pa war schon überall Feuer. Wir konnten gar nichts mehr tun. Wir haben nach ihnen gerufen, aber sie waren schon-«
Tränen rannen über ihre Wangen, und dieses Mal war sie diejenige, die tröstend von jemandem umarmt wurde. Verzweifelte Schreie von ihr und ihrer Mutter sirrten durch ihren Kopf. Marcus streichelte ihr über den Rücken. Ihre Haut war so bleich und kalt wie Schnee. Die Umarmung half ihr, nicht in lautes Schluchzen zu verfallen. Lorea zwang sich, ihr hektisches Schniefen zu beruhigen. Es war nicht sittlich, vor jemandem Tränen oder Schwäche zu zeigen. Schwermütig lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Sie trank einen weiteren Schluck der warmen Brühe, die etwas versalzen schmeckte. Mit den langen Ärmeln ihrer Bluse wischte sie sich die Traurigkeit aus dem Gesicht.
Die Haustür öffnete und schloss sich quietschend, und Marcus stand eilig auf und hob erwartungsvoll das Kinn. Eine Gestalt trat ins Licht des Kaminfeuers. Loreas Blick wanderte zum Flur. Es war die Bäuerin vom Feld, die Maia gegrüßt hatte. Auf dem Arm der Frau saß ein kleines Mädchen, das Lorea müde musterte. Das Kind rieb sich die Augen und versteckte sein Gesicht, als es den Kopf auf die Schulter der Frau legte.
Lorea grüßte sie kleinlaut. Gewiss war sie eine Mitbewohnerin ihres Vetters.
Marcus‘ Schultern sanken enttäuscht herab, weil er vermutlich seine Mutter erwartet hatte. Er schlurfte zu der Bäuerin und dem Mädchen hinüber.
»Ist Judeth noch immer nicht da?«, fragte die Frau, während sie zur Treppe im Flur gingen. Trübselig verneinte Marcus. Beide unterhielten sich leise, und wandte Lorea sich von ihnen ab. Sie bevorzugte es, mit ihren Gedanken allein zu bleiben. Das Kaminfeuer weckte abermals Loreas Aufmerksamkeit und zog ihre schwarzen Augen in seinen Bann. Wenn sie näher heranrutschte, würde ihr schneller warm werden. Aber sie war zu verängstigt und wollte lieber einen sicheren Abstand zu dem Feuer wahren. Als sie den Namen ihrer Tante während des Gespräches der beiden anderen vernahm, fragte sie sich, was ihr wohl zugestoßen war. Sie wäre doch nicht ohne ein Wort fortgegangen. Lorea redete sich ein, dass Judeth nur Kräuter im Wald sammeln wollte und sich dabei am Fuß verletzt habe. Diese Geschichte beruhigte wenigstens ihre Sorgen.
Das Feuer knackste, spuckte einen Funken aus dem Kamin und ließ Lorea aufschrecken. Ein heißer Hauch wehte zu ihr hinüber. Bei dem Gedanken an ein warmes Bett entfleuchte ihr ein Gähnen.
Nachdem die beiden im Hausflur ihr Gespräch beendet hatten, trug die Frau ihr Kind die Treppe hinauf.
»Du solltest auch schlafen gehen«, empfahl ihr Vetter, der zurück in die Stube kam. »Man sagt, dass man einen klaren Kopf bekommt, wenn man über manche Dinge geschlafen hat.«
Müde brummend nahm Lorea seinen Ratschlag entgegen. Der letzte Schluck Brühe in ihrem Becher war bereits ausgekühlt wie die Nacht, die anbrach. Sie wünschte sich zutiefst, dass sie und ihre Mutter eine Weile hier bei Marcus bleiben könnten.
Als sie wieder das Zimmer ihrer Tante betrat, eilte Marcus ihr nach, bepackt mit Decken aus einer benachbarten Kammer. Die kratzigen Stoffe breitete er auf dem Fußboden aus.
»Soll ich eure Stiefel ölen?«, fragte er leise flüsternd, um Maia nicht zu wecken. Lorea nickte und lächelte ihn dankbar an. Dann schützte ihr Schuhwerk sie besser vor der Nässe des Regens.
Für einen zögerlichen Moment musterte Marcus ihre schlafende Mutter. Er verabschiedete sich mit einem »Gute Nacht« und schritt aus dem Raum. Lorea schloss hinter ihm leise klackend die Tür. Morgen früh würde es in dem kleinen Zimmer stickig werden, deshalb öffnete sie das Fenster am Kopfende des Bettes. Der Duft des allmählich aufblühenden Frühlings huschte mit einer kalten Brise ins Zimmer. Der schlechte Stadtgeruch wurde vom späten Abend verweht.
Ein tiefer Atemzug bändigte ihre aufgebrachten Sinne und ließ eine eisige Spinne über ihren Rücken laufen, weil die Luft immer kühler wurde. Der Abend verfinsterte sich.
Lorea legte sich neben Maias Schlafplatz auf die am Boden zurechtgelegten Decken und schlang eine davon fest um sich. Kein klarer Gedanke kam ihr in den Sinn. Sie dachte über all das nach, was ihnen widerfahren war. Gedankenfetzen stießen sie von einer Erinnerung zur anderen. Vom tosenden Feuer zum leicht verletzten Arm und dem schwarz verkohlten Ärmel ihrer Mutter. Von den Schreien nach ihren Geschwistern und ihrem Vater zu dem Bild eines brennenden, vierbeinigen Viehs. Von der rauchenden, vom Regen gelöschten Brandruine ihres Heimes zu ihrem spärlich gefüllten Bündel. Die Angst, dass sie kaum mehr Besitz hatten und ihre Existenz mehr gefährdet war als denn je, nagte an ihr. Ebenso wie die Furcht, dass ihrer Tante etwas Ernsthaftes zugestoßen war.
Ihre Mutter atmete tief und gleichmäßig. So friedlich sah sie jetzt aus. Nicht einmal ein Hauch von Verzweiflung war mehr in ihrem Gesicht zu erkennen. Schon seit dem frühen Morgen hatte Lorea die Befürchtung gehabt, dass ihre Mutter letzte Nacht kein Auge zugetan hatte.
Ihr kam es vor, als verbrächte sie Stunden mit ihren Gedanken. Draußen hörte sie die Schritte der wenigen Bewohner, die erst spät nach Hause kamen. Ein Mann lief durch die Straßen und sang ein warnendes Nachtlied, dass ein jeder zu dunkler Stunde daheim sein sollte, da nur Halunken zu dieser Tageszeit durch die Gassen streunten. Lorea mutmaßte, dass ein Nachtwächter die melodische Botschaft durch die Stadt sandte. Sie selbst hatte noch nie einen gesehen, doch sie kannte die Wächter aus Erzählungen ihres Vaters. Mit Fantasie stellte sie sich die kräftige Gestalt des Nachtwächters vor, setzte ihm einen schwarzen Spitzhut auf, legte einen ebenso farbenen Umhang um beide Schultern und drückte ihm eine Laterne in die Hand, die so lang war wie ihre Elle. Um nachzusehen, ob sie sich den Mann recht vorstellte, stand sie auf und lief zum Fenster hinüber. Sie konnte ohnehin nicht schlafen, da würde ihr ein ablenkender Blick aus dem Fenster guttun. Lorea spähte auf eine breite Handelsstraße. Die Häuser waren nicht allzu dicht gebaut wie in den Gassen, sodass man nicht gleich mit einem Schritt auf dem benachbarten Dach landete. Ein langer Schatten mit einer Laterne in der Hand entfernte sich auf der Straße von ihr, und sie stellte fest, dass sie sich abgesehen vom Körperbau des schlanken Mannes ein stimmiges Bild zu dem Nachtwächter gemacht hatte. Sie lehnte sich aus dem Fenster und bewunderte die vielen leuchtenden Punkte am wolkenlosen Himmel. Bei ihr zuhause hatte sie die Sterne klarer gesehen als hier in der Stadt, da manch eine schmale Rauchwolke aus einem Kamin die Himmelsleuchten kurz versteckte.
Ihre Ellenbogen stützten sich aufs Fensterbrett, während ihre Augen jede kleinste Ecke auf der Straße unter ihr betrachteten. Viele Fensterläden der steinernen Fassaden waren geschlossen. Hinter manch einem flackerte das Licht einer Kerze. Die eindruckvolle Silhouette der Burg flößte Lorea gruselhaften Respekt ein. Auf den Außenmauern der Burg entdeckte sie Fackeln, die so klein wie Weizenkörner wirkten.
Zwei Männer liefen direkt unter ihrem Fenster vorbei. Sie belauschte die beiden.
»Hast du den Rauch heute Morgen gesehen? Meine Frau hat gesagt, das hätten Hexen in der Nacht angezündet und seien singend drum herum gesprungen.«
»Die spinnt ja«, lachte der andere ihn aus. Doch der Mann schien von der Geschichte seiner Frau überzeugt.
»Im Ernst, ich hoffe, die locken keine Hexenjäger an. Hab gehört, die sollen kaltblütig sein und dir ein Ohr abschneiden, wenn du sie nur schief anschaust. Denen will ich nicht begegnen.«
»Glaubst du an so ein Weibsgelaber?«
Die beiden bogen in eine Seitenstraße und verschwanden aus Loreas Hörweite. Sie ließ den Kopf in der Kälte hängen. Der Rauch fand mit Sicherheit bei der Asche ihres Hauses ihren Ursprung. Es beeindruckte sie auf beängstigende Weise, dass man ihn so weit entfernt gesichtet hatte.
Eine Frau mit einem Mädchen an der Hand verschwand durch eine Haustür. Die kleine Maid auf dem Arm von Marcus‘ Mitbewohnerin kam ihr wieder in den Sinn. Sie war etwa um einiges jünger als Loreas Schwester Liza. In diesem Sommer wäre sie eine Handvoll an Jahren alt geworden. Mit ihr und ihrer Mutter hatten sie im Winter aus der Wolle der Schafe Garn gesponnen und dabei Lieder gesungen. Beim Ernten ihrer kleinen Beete im letzten Sommer hatte sie das erste Mal mit geholfen. Weil eine Ziege damals einem angebauten Kohl Blätter gestohlen hatte, war Liza aufgesprungen und zu dem Tier hinüber gelaufen, um ihm eine kräftige Standpauke zu halten. Die Tiere mochte sie am liebsten. Ein paarmal hatte sie heimlich im Stall geschlafen, da sie überzeugt davon war, dass das Vieh in ihrer Gesellschaft besser träumte. Tief in Gedanken bei ihrer Schwester versunken hörte sie, wie jemand neben ihr flüsterte: »Ich mache mir auch Sorgen.«
Erschrocken zuckte sie zusammen und fuhr herum. Ihr Vetter steckte den Kopf aus dem Fenster des Nachbarzimmers und konnte offenbar ebenfalls nicht einschlafen. »Mutters Verschwinden und euer Schicksal scheinen mir ein seltsamer Zufall.«
»Was denkst du, wo Judeth ist?«, fragte Lorea.
»Wahrscheinlich ist sie nur fortgegangen, weil sie mir ein Leben mit Beschimpfungen wegen der Hexengeschichte ersparen wollte.« Marcus lehnte sich weit aus dem Fenster, das nur eine ausgestreckte Armlänge von ihrem entfernt war. Trotz der herrschenden Dunkelheit erkannte Lorea deutlich seine vor Sorge verzerrten Brauen. »Obwohl hier nie jemand ein böses Wort über uns verloren hat. Ich verstehe es nicht.« Er hob den Kopf, als er etwas zu bemerken schien. »In letzter Zeit bildete meine Mutter sich Dinge ein, machte sich Sorgen wegen nichts. Vor ein paar Tagen fing sie wieder mit Shias Geschichte an und meinte, sie sei eine höllisch schlechte Mutter.«
Maia hatte Lorea schon oft davon erzählt. Shia, Judeths jüngste Tochter, musste jetzt bald so alt wie Lorea selbst sein, wenn sie noch lebte. In einem Frühling vor vielen Jahren war Marcus’ kleine Schwester während einer Hungersnot nicht mehr von einem nahen Hof nach Hause zurückgekehrt. Niemand wusste, ob sie Ernte gestohlen hatte und bestraft worden war oder ob sie jemand wegen des großen Hungers getötet hatte. Seither hatte sie keine Menschenseele mehr gesehen. Und jetzt war Marcus’ Mutter ebenfalls verschollen. Womöglich stimmte es, dass sie Hexen waren, denn das Unglück schien ihnen ungewöhnlich oft zu begegnen.
Der Wind blies Loreas schwarzes Haar aus ihrem Gesicht, und sie senkte den Blick auf die Straße unter ihnen. Eine kleine Gruppe tratschender Frauen lief in Richtung des Südtors. Ihr Schnattern brachte das erste Mal am heutigen Tag ein Schmunzeln auf Loreas volle Lippen. Sie redeten über einen Viehstall in der Nähe, dass dort eine Frau bei den Schweinen hingefallen sei und sich eines der Tiere auf sie gesetzt habe.
Marcus lachte leise auf. »Weiber haben Probleme«, sagte er und warf ihr ein munteres Lächeln zu. Eine der Frauen auf der Straße drehte sich zu ihnen um. Bevor sie den Urheber dieser Mäkelei ausfindig machte, ging Marcus hinter dem Fenstersims in Deckung. Lorea kicherte. Erst als die Damen von der Straße verschwanden, richtete sich ihr Vetter wieder auf. »Kennst du ein paar Sternzeichen?«, fragte er sie.
»Nein, du etwa?«
»Nur ein paar. Angeblich sollen die Charakterzüge eines manchen von jenem Sternzeichen abhängig sein, unter welchem er geboren wurde. Wie alt bist du jetzt eigentlich?« Er sah nachdenklich zu ihr hinüber. Er schien in Gedanken zu stöbern, ob er selbst eine Antwort auf seine Frage fand.
»Siebzehn Winter«, warf sie ein, denn er schien sich nicht genau zu erinnern. Bevor sie sich wieder mit den Gedanken an der Vergangenheit festankerte, redete sie lieber über Schöneres. »Kannst du mir ein Himmelszeichen zeigen?«
»Dort ist, glaube ich, der Große Bär.« Er streckte den Arm weit nach oben und zeichnete ein seltsames Muster in die Luft. »Siehst du die hellen Sterne dort?«
Lorea glaubte zu sehen, was er andeutete. Bei dem merkwürdigen Gebilde verzog sie ihre Brauen. Sahen Bären so eigenartig aus?
Marcus klopfte ihr eine Hand behutsam auf die Schulter. »Geh schlafen. Morgen sehen wir weiter.« Mit nach oben gezogenen Mundwinkeln verschwand er wieder im Nachbarzimmer und schloss das Fenster. Ein letztes Mal streckte Lorea die Arme in die nächtliche Luft und folgte Marcus’ Rat. Trotz der Decken, in welche sie sich hüllte, war es hart unter ihrem Rücken. Bei ihr daheim waren die Unterlagen aus Stoffen und Fellen immer weicher gewesen. Wieder dachte sie an ihr Zuhause. Bei den Streunern, murmelte Lorea in Gedanken, sie wollte es endlich vergessen. Diese flammende Nacht sollte aus ihrem Kopf verschwinden.